Der W 110.110 von Wolfgang Küppers

 

Die Modellpflege im Sommer 1965 brachte der kleinen Heckflosse eigentlich nur wenig Neues. Das Heck und die Innenausstattung erfuhr Retuschen, die Chromstäbe auf den Flossen (auf Mercedesdeutsch ja „Peilstege“ genannt) entfielen und die vorderen Blinker wanderten von ihrer prominenten Position oben auf den Kotflügeln hinunter unter die Frontscheinwerfer. Während beim 200er Benziner ein zusätzlicher Vergaser zu einer kleinen Leistungsexplosion von 80 auf 95 PS führte, tat sich beim Diesel wenig unter der Haube. Statt drei hielten jetzt fünf Hauptlager die Kurbelwelle im Zaum, was zwar die Lebensdauer erhöhte, die restlichen Daten jedoch nicht veränderte: 1988 cm³ Hubraum, auf vier Zylinder verteilt, stemmten zaghafte 11,5 mkg Drehmoment und 55 PS Leistung auf die Kurbelwelle. Diese Leistungsdaten standen dem Erfolg des Wagens jedoch keineswegs im Weg. In den Jahren, in denen der Wagen im Verkaufsprogramm stand, fanden sich mehr als doppelt so viele Käufer für den Diesel wie für den kleinen Benziner! Auch in Bezug auf die Gesamtproduktion der Wagen mit Einheitskarosse der Baureihe W 110, W 111 und W 112 war der Diesel ein großer Erfolg: Beinahe 40 % aller Fahrzeuge hatten den Dieselmotor OM 621 unter der Haube, von 1961 bis zur Modellpflege im 190 D, danach im 200 D. Warum wurde zur Modellpflege die Typbezeichnung überhaupt gewechselt? Beim Verkauf der Auto Union an Volkswagen im Jahre 1964 ward vereinbart, dass sich in Zukunft der Volkswagenkonzern auf das Segment unter zwei Liter beschränkt und sich Mercedes um den Markt für Wagen mit zwei Liter Hubraum und mehr kümmern soll. Die Typenbezeichnungen mit dem späteren Spitzenmodell Audi 100 auf der einen Seite und dem Basismodell Mercedes 200 bzw. 200 D auf der anderen Seite der Hubraumgrenze trugen dem Rechnung.

 

Heute, im Jahre 2005 finden sich nur noch sehr, sehr selten kleine Dieselflossen im Straßenbild. Eine Überlebende, die sogar noch im Alltag eingesetzt wird, findet sich in der Hand von Wolfgang Küppers aus Altenriet bei Tübingen. Jungen in seinem Alter haben normalerweise ja anderes im Sinn. Sie träumen von Klarglasrücklichtern, „bösem Blick“ und anderem Schnickschnack, mit dem sie Mutters Kompaktwagen schikanieren können. Der Achtzehnjährige ging die Lösung seiner Transportbedürfnisse jedoch auf sehr individuelle Weise an. Bei der Suche nach einem eigentlich neueren Mercedes fiel ihm im Internet die Kleinanzeige für die Heckflosse auf. Da der Wagen auch in der Nähe stand, wollte er sich das Ganze unverbindlich ansehen. Wenig später (und nach Wechsel einer frappierend niedrigen Kaufsumme) war er stolzer Besitzer einer hellgrauen 1967er Flosse mit geschmackvollem weißem Dach, die sich trotz der langen Standzeit von acht Jahren in einer Scheune noch als ausgesprochen rüstig zeigte. Natürlich galt es erst, eine Reihe von Standschäden zu beseitigen. Die Bremsflüssigkeit, die Bremsschläuche, alle anderen Flüssigkeiten verlangten nach Austausch und nach Beseitigung von ein paar anderen Kleinigkeiten stellte sich der Wagen von seiner zuverlässigen Seite dar. Zuverlässigkeit war auch gefordert, galt es doch, den ausgeprägten Bewegungsdrang des angehenden Abiturienten zu befriedigen. Da kommt es schon mal vor, dass im Anschluss an das Pfingstreffens des Vereins der Heckflossenfreunde in Ornbau bei Nürnberg noch ein kurzer Abstecher zu Freunden in Potsdam eingelegt wird. Nach 18 Monaten Einsatz, bestandenem Abitur und einigen Touren durch das Land ist der Kilometerzähler um 40 tausend Einheiten vorgerückt. Dabei erfuhr der Wagen natürlich auch ein paar Individualisierungen. So wich die schwarze Radioscheußlichkeit der 80er Jahre moderner Unterhaltungselektronik, ein formschöner Ventilator sorgt auch im Sommer für angenehmes Klima und nachträglich eingebaute Kopfstützen sind für den Limousinenfahrer ein stilistisches Muss, auch wenn sie einem W 116 entstammen. Dass Wolfgang Küppers langfristig denkt, kann man an zwei Aussagen in unserer Kaffeerunde festmachen: „Ich will kein anderes Auto mehr, die Flosse hat all das, was ich brauche: Platz, Seele,  im Prinzip niedrige Kosten.“ und “Ich mach mir langsam Gedanken über eine Motorrevision. Der zieht nicht mehr richtig und braucht auch viel Öl. Ist ja eh der zweite Motor, der ist 1969 rein gekommen. Er hat jetzt halt auch schon 530 tausend Kilometer runter, da ist das schon in Ordnung.“

 

Weiter mit: Der W 115.115 von Dr. Hans-Christian Schneider

 

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